Historische Aussprache des Lateinischen und Altgriechischen
Die rhetorische und literarische Hinterlassenschaft der griechisch-römischen Welt läßt sich ohne ein Verständnis ihrer oralen und auditiven Realisierung nicht kulturhistorisch adäquat würdigen. Rhetorische wie literarische Produktionen waren die gesamte Antike hindurch in erster Linie für eine orale (Re-)Aktualisierung bestimmt, von Stegreifvortrag, eingeübtem Vortrag und Rezitation bis hin zum Vorlesen und zur lauten Eigenlektüre. Auf der Mündlichkeit von Kommunikation fußt nicht nur die gesamte Rhetorik von der Klassik bis in die Kaiserzeit, nicht nur griechisches und römisches Drama, nicht nur der kaiserzeitliche Bildungsbetrieb, sondern selbst eine so genuin schriftliche Gattung wie die Epigrammatik und etwa noch – last but not least – die Platonische Erkenntnistheorie und Dialektik. Diese Tatsache im Zugriff auf antike Texte zu vernachlässigen heißt, fundamentale Prinzipien antiker Kommunikation ebenso zu ignorieren wie ein besseres und tieferes Verständnis antiker Ästhetik.
Es genügt nach Meinung der Verfasser des vorliegenden Themenportals ‘Historische Aussprache des Lateinischen und Altgriechischen’ allerdings nicht, ein solches Verständnis auf die Theorie zu beschränken. Wenn die Wissenschaft auch den Auftrag hat, ihre Ergebnisse einer Öffentlichkeit zu vermitteln – und das gilt gerade für geisteswissenschaftliche Fächer, die Gegenstand schulischen Lernens sind –, bedarf es eines Bemühens darum, Lernenden und Interessierten eine zumindest im Ansatz authentische Erfahrung im Kontakt mit den alten Sprachen und damit der antiken Kultur zu ermöglichen. Im öffentlihen Vortrag, im schulischen und universitären Unterricht und beim eigenen Lernen sollte lautes Aussprechen und Hören – wie in den modernen Fremdsprachen – die Regel sein. Dabei geht es natürlich nicht um die Erzeugung kommunikativer Kompetenz. Vielmehr soll zum einen auf diese Weise Erlernen und Behalten verbessert und gestärkt werden. Zum anderen gilt es dem Eindruck entgegenzuwirken, Latein und Griechisch seien tote Sprache: Höhere Authentizität des Lernstoffes ist anzustreben, zugleich soll die ästhetische Erfahrung der alten Sprachen nicht zu kurz kommen.
Wenn man sich zu diesen Zielen versteht, führt kein Weg am Erlernen einer historischen oder zumindest historisierenden Aussprache vorbei. Authentizität ist nicht gegeben, wenn lateinische Texte der Antike so ausgesprochen werden, als seien sie im 19. Jahrhundert entstanden. Ein authentischer ästhetischer Eindruck wird verfehlt, wenn beim Lesen von antiker Dichtung der Wortakzent zu Gunsten eines Iktus ignoriert wird, wenn Laute ganz anders artikuliert werden, als man es in der Entstehungszeit der Texte tat.
Das Themenportal verfolgt vor diesem Hintergrund insbesondere zwei Anliegen:• Es liefert Informationen zum aktuellen Stand der Erforschung der oralen und auditiven Dimension der alten Sprachen, sowohl in linguistischer als auch in kulturhistorischer Hinsicht, vor allem durch Bibliographien und Links auf entsprechende Webseiten und Datenbanken• Es stellt didaktische Materialien bereit, die das Erlernen, Üben und unterrichtliche Praktizieren einer historisierenden Aussprache an Schule und Universität ermöglichenIn beiden Bereichen ist die inhaltliche Füllung des Themenportals als vorläufig zu erachten; für Anregungen und weitere Hinweise und Materialien sind die Verfasser dankbar.
Prof. Dr. Peter von Möllendorff
(Lehrstuhl für Klassische Philologie / Griechische Philologie, Universität Gießen)
Links:• Loculi Loquentes - E-Learning-Plattform zum auditiven Lernen lateinischer Vokabeln im Schulkontext• Bibliographie zur Aussprache des Lateinischen• Homeric Singing - eine Annäherung an gesungene Epen:a) Seite des Instituts für Kulturgeschichte der Antike / Antike Musik (Österreichische Akademie der Wissenschaften)b) Danek, Georg (Universität Wien) / Hagel, Stefan (Österreichische Akademie der Wissenschaften): Homer-Singen, Wiener Humanistische Blätter (1995), 5-20. (PDF)• "mutatas dicere formas"– wie klangen Ovids Metamorphosen?